Die Auffassung, dass die Willendorferin eine Verkörperung von Mutter Erde ist, wird dadurch verstärkt, dass sie keine Füße und im Verhältnis zu ihrem Körper nur sehr zierliche Beine hat. Die Erde muss sich nicht erden, denn sie ist selbst die Erde.

Urahnin der puren Weiblichkeit

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Am 7. August 1908 wurde bei Gleisbauarbeiten in Willendorf (Wachau / Österreich) eine rund elf Zentimeter große Kalksteinfigur gefunden. Die kleine weibliche Figur ist nackt und hat ausladende Brüste und Hüften. Sie besitzt weder Gesicht noch Füße, dafür Armreife und eine Lockenfrisur.

Die uralte Muttergöttin aus der Wachau ist zwischen 25.000 und 35.000 Jahre alt, das macht sie besonders unwider­steh­lich.

In ganz Europa wurden Figuren von Frauen aus dieser Zeit gefunden. Die Willendorferin gilt jedoch als die detailgenaueste und am besten erhaltene. Auffallend ist vor allem die sehr fein gearbeitete Ausführung der Figur, die aus Kalkstein mithilfe eines Feuersteinstichels gefertigt wurde, und die ursprünglich dick mit rotem Ocker bemalt war. Rötelreste belegen eine ursprünglich vorhandene Bemalung.

Das Material, aus dem die Statuette geschnitzt wurde, kommt in der Region Willendorf nicht vor — also wurde entweder die Figur oder der Kalkstein importiert. Es wird vermutet, dass das Material aus dem Kalksteinmassiv Stránska Skála nahe der tschechischen Stadt Brünn, rund 260 Kilometer von Willendorf entfernt, stammt.

Der Venus-Begriff

Die auf die Entdeckung der Willendorferin folgende Ausgrabung legte verschiedene Schichten frei, die bis zu 40.000 Jahre alt waren. Aus diesen Schichten wurden nicht nur Knochen und Steinwerkzeuge sondern auch zwei weitere weiblichen Statuetten geborgen, die allerdings erheblich schlechter ausgearbeitet sind.

Die Gleisbauarbeiter haben der Figur, die schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts so gar nicht dem Schönheitsideal entsprach, scherzhaft den Namen „Venus“ gegeben.

Diese Bezeichnung hat sich erhalten, ist aber eher als Verhöhnung aufzufassen.

Zumal es auch eine hässliche Vorgeschichte des Venus-Begriffs in Archäologie gibt:

Die 1815 verstorbene Südafrikanerin Sarah Baartman wurde aufgrund ihres ausladenden Körpers als „Vénus hottentote“ in Europa zur Schau gestellt und verhöhnt. Sie gehörte zum Stamm der Khoikhoi, in Europa besser bekannt unter dem Namen „Hottentotten“. Interessant war es für die weißen europäischen Männer nicht nur, eine schwarze nackte Frau zu sehen, die ihre erotischen Phantasien beflügelte. Die Khoikhoi-Frauen fallen auch durch ein enorm ausgeprägtes Gesäß auf, es gibt auch das Gerücht, dass deren inneren Schamlippen ungewöhnlich ausgeprägt seien. Das Phänomen existiert freilich nur in der Phantasie europäischer Männer so.
Aufgrund ihres ausladenden Körpers wurde sie als „Vénus hottentote“ und verhöhnt. Als entwürdigenden Höhepunkt dürfen sich die Zuschauer durch Betatschen von der Echtheit des überdimensionalen Gesäßes überzeugen.
Die Erniedrigung ging auch nach ihrem Tod 1815 weiter: Nachdem von ihrem Körper ein Gipsabdruck angefertigt worden war, wurde er vermessen und seziert, Skelett, Gehirn und Geschlechtsteil konserviert. Der bemalte Gipsabdruck und das Skelett wurden im Muséum national d’histoire naturelle in Paris ausgestellt. Nach jahrelangem Insistieren von Nelson Mandela wurde ihr Skelett 2002 nach Südafrika gebracht und dort in einer großen Zeremonie beigesetzt. Der Gipsabdruck ihres Körpers ist heute immer noch im „Musée de l’Homme“ in Paris ausgestellt.

1894 stellte Archäologe Édouard Piette einen Bezug zwischen der „Hottentotten-Venus“ und eiszeitlichen Frauenfiguren her.
Bei beiden glaubte der Rassist Piette, einen typischen „abnormen“ Körperbau feststellen zu können – angeblicher Beleg für die geistige und sittliche Rückständigkeit der „Urmenschen“.

In feministischen Kreisen und einer Ernst zu nehmenden archäologisch-wissenschaftlicher Sprache wird daher die Venus-Bezeichnung mittlerweile durch andere Bezeichnungen ersetzt. Die Figuren werden „Frau von …. “ oder „Urmutter von …. “ (Dolní Véstonice, Hohlefels, Lespugue, Laussel, Kostienki, Galgenberg etc.) genannt.

Oder einfach „Die Willendorferin“ genannt.

Symbol der weiblichen Lebenskraft

Zahlreiche Vermutungen zu ihrer Bedeutung ranken sich um diese kleine Statuette: Der Bogen spannt sich von der Abbildung einer Erdgöttin oder einer Mutterfigur, einem Fruchtbarkeitssymbol, einem Glücksbringer bzw. einem magischen Kraftobjekt, von dem sich Frauen bei Ritualen oder bei Geburten Energie geholt haben, einem Kinderspielzeug, also einer steinzeitlichen Puppe bis hin zu einer frühen Pornodarstellung.

Die Vermutung, dass es sich hier um die Darstellung einer Göttin und nicht einer menschlichen Frau handelt, beruft sich darauf, dass sie hat kein Gesicht hat, das auf eine individuelle Person hinweisen würde. Daher scheint die Willendorferin also eher eine (göttliche) Energieform, eine archetypische Figur oder das Symbol der weiblichen Lebenskraft als Teil der Schöpfung darzustellen.

Die Auffassung, dass die Willendorferin eine Verkörperung von Mutter Erde ist, wird dadurch verstärkt, dass sie keine Füße und im Verhältnis zu ihrem Körper nur sehr zierliche Beine hat. Die Erde muss sich nicht erden, denn sie ist selbst die Erde.

Vermutet wird auch, dass sich hier eine Frau selbst dargestellt hat. Sie blickt an sich herunter. Dabei kann sie natürlich ihr eigenes Gesicht nicht sehen, das Verhältnis der Proportionen der Brüste zu den kleinen Beinen kann auch aus der perspektivischen Verzerrung heraus entstanden sein, die gegeben ist, wenn eine Frau ihren eigenen Körper betrachtet.

Ihre Körperfülle lässt durchaus auf ein Fruchtbarkeitssymbol schließen – Fruchtbarkeit der Frauen sowie jener der Erde selbst: Je fetter die Erde ist, je dicker ihre Humusschicht, umso üppiger ist die Vegetation, das Leben, die Nahrung für die Menschen.
Die großen Brüste lassen aber mehr auf eine gerade stillende als auf eine aktuell fruchtbare Frau schließen, daher hat die Willendorferin auch einen starken nährenden Aspekt.

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Absurd in der Steinzeit – weibliches Schönheitsideal von heute

Die Figur entstand in einer Zeit, in dem die Menschen ständig von Nahrungsmangel bedroht waren. Bei Naturvölkern findet man kaum extrem dicke Menschen, schon gar nicht in der Steinzeit: anstrengende Arbeit mit einfachen Werkzeugen, großer Kraft- und Zeitaufwand für Nahrungserwerb und -zubereitung, die Sorge um Behausung, Kleidung oder Brennmaterial sind kräfte- und fettraubend.

In der Steinzeit wäre unser heutiges weibliches Schönheitsideal mit wenigen oder gar keinen Fettreserven geradezu absurd. Eine Frau mit dem heute erstrebenswerten Body-Mass-Index würde in einer Periode des Nahrungsmangels verhungern und mit ihr auch ihre Kinder. Zudem ist ein starkes Unterhautfettgewebe ein guter Kälteschutz.

Durch seine Korpulenz und die überbetonten sekundären Geschlechtsmerkmale, kann also davon ausgegangen werden, dass dieses archaische Frauenidol die Fruchtbarkeit und Fortdauer einer eiszeitlichen Mammutjägersippe beschwor. Oder auch den Wunsch oder die Bitte an eine höhere, göttliche Instanz zum Ausdruck brachte, dass immer genug zum Essen da sei.

Nicht nur Muttergöttin sondern auch Ausdruck aktiver Sexuali­tät

Besonders charmant ist daher an der Willendorferin, dass sie aus einer Zeit kommt, in der Körperfülle so er­strebenswert war, dass üppige Frauen in Kult­statuetten rituell verehrt wurden. Denn sie ist nicht nur Frucht­bar­keits­symbol und Muttergöttin sondern auch Ausdruck aktiver Sexuali­tät.

Dies findet seinen künst­leri­schen Ausdruck darin, dass vor allem bei ihren primären und sekundären Geschlechts­merk­ma­len besonderer Wert auf Genauigkeit in Details gelegt, Gesicht, Arme und Füße hingegen eher ver­nachlässigt wurden. Die Figur ist – obwohl sehr rundlich – offenbar nicht schwanger. Wäre sie das, so wäre das ein eindrücklicher Beweis der Fruchtbarkeit. So fordert sie eher – zumal sie mit aufreizend roter Farbe bemalt war – recht eindeutig zu sexuellen Aktivitäten auf.

Wie dem auch immer sei, welche Bedeutung die Willendorferin vor Jahrtausenden auch hatte: Diese Urahnin zwinkert Frauen über die Zeiten hinweg zu und lässt sie allen Diätwahn, standardisierte Körper von Supermodells und Silikon-Formungen relativieren. Erotisch ist und bleibt einfach immer noch die pure Weiblichkeit.

Wird von Hand zu Hand weitergeben

Sehr typisch für die heutige Zeit und die (männlich geprägte) Wissenschaft ist im übrigen die Tatsache, dass die Willendorferin, wie auch viele andere kleine Frauenstatuetten in Museen in aufrechter Haltung (oft auch noch auf einer kleinen Stange zwischen ihren Beinen aufgespießt) gezeigt werden. Die handliche Größe und die handgerechte Form ist jedoch unmissverständliches Zeichen dafür, dass diese Figuren in der Hand gehalten worden sind, von Hand zu Hand weitergeben und zwischendurch auch abgelegt wurden, keinesfalls jedoch irgendwo hin- oder aufgestellt wurden.

Die vielen Repliken der Willendorferin haben jedoch in zahlreichen „Frauenzimmern“, auf Altären, bei Ritualen und gut eingebettet in Schatz- und Zauberkistchen Einzug gehalten und ihre „Handhabung“ knüpft tausendfach sehr individuell an jener unserer Vorfahrinnen an.

Zu prähistorischen Frauenfiguren siehe auch: Urmutter aus Dolní Véstonice

 

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