Tiamat ist der Urzustand, das Allumfassende, die „heilige Tiefe“ – unter diesem Namen kommt sie auch in der Bibel vor (Genesis 1,3). Sie gilt als die Muttergöttin von allem, als „Große Drachin des Chaos“.
Die „heilige Tiefe“
Tiamat ist der Urzustand, das Allumfassende, die „heilige Tiefe“ – unter diesem Namen kommt sie auch in der Bibel vor (Genesis 1,3). Sie gilt als die Muttergöttin von allem, als „Große Drachin des Chaos“.
Sie wird auch meist als Drachen dargestellt und führt auch den Titel „Mummu Hubur“ – Mutter der Ungeheuer, weil sie neben den erstgeborenen Gottheiten auch die Mischwesen und Dämonen hervorbrachte.
Löwenpranken, Pferdekörper, Raubvogelflügel
Auf babylonischen Reliefs wird sie als Wasserschlange dargestellt, auf assyrischen Darstellungen ist sie meist ein Mischwesen u.a. mit Löwenpranken, Pferdekörper, Hinterläufen in Adlerform und Raubvogelflügeln, das sehr an einen Drachen erinnert.
Wie Tiamat die Welt erschaffen hat, dazu gibt es einige Auslegungen: Tiamat — noch gestaltlos — soll aus sich heraus Himmel und Erde geschaffen haben.
In dem Zusammenhang wird sie auch Tohu Bohu genannt, das kommt als „Tohuwabohu“ in der Bibel, im ersten Buch Mose vor: „Und die Erde war wüst und leer (tohu vavohu)“ – was auf den Urzustand hinweist.
Tiamat ist daher auch die Gebieterin der vier weiblichen Ur-Elemente: Ewigkeit, Nacht, Tiefe, und Wasser.
In einer anderen Version soll sie sich selber Form verliehen haben, indem sie sich in ihrer Tochter Mummu materialisierte.
Im „Enuma Elish“, dem ältesten schriftlich erhaltenen Schöpfungsmythos wird berichtet, dass sie von ihrem Sohn Marduk erschlagen wurde, der darauf hin ihren Körper in Himmel und Erde geteilt und durch diese Teilung den Horizont geschaffen hat.
Dies kann auch eine Interpretation dafür sein, dass bei der Geburt des Marduk der Mutterleib der Tiamat entzwei gerissen wurde und aus dessen dunkler Tiefe durch den Geburtsakt das Licht entstanden ist.
Aus den Augen der Tiamat sollen anschließend die Flüsse Euphrat und Tigris geflossen sein, ihr Drachenschwanz habe sich nach oben gebogen und wurde zur Milchstraße. Es heißt auch, ihr Sohn Marduk habe von ihr das Heilige Wort erhalten und es in der Bibel festgehalten.
Muttermord aus Machtgier
Eine mögliche Interpretation dieses Muttermords ist aber auch, dass Marduk, der aus dem Leib der Tiamat geboren wurde, sich nun gegen sie wandte, weil er ihre Macht innehaben wollte. Er wollte sich nicht den Gesetzen der Schöpfung beugen, dass das Männliche aus dem Weiblichen kommt und daher die Mutter als Schöpfungskraft die Mächtigere ist. Der Sohn wollte die Mutter entmachten. Das kann als einer der Impulse gesehen werden, wie das Matriarchat vom Patriarchat abgelöst wurde.
Irgendwann ist es ja dann auch „modern“ geworden, dass die Schöpfungskraft männlich ist — so widersinnig das erscheinen mag. Zeus mit seiner Kopfgeburt der Athena ist dafür ein Beispiel, der jüdisch-christliche Gott ein anderes.
Luisa Francia schreibt in ihrem Buch „Drachenzeit“:
Der patriarchale Machtanspruch muss die Macht der Göttin vernichten, um sich durchzusetzen, und was im Mythos der Tiamat überliefert ist, verbreitet sich überall. Der Sohn muss die Mutter töten, die unheimliche, dunkle Kräfte hat. dieses schreckliche Blut, das die Mutter mit mondgleicher Regelmäßigkeit überall auf die Erde tropft, ist Sitz dieser dunklen kraft, über die kein Mann verfügen kann. Blut ist der Mittelpunkt des Lebens und Sterbens, Substanz der alten Macht.
Schöpfungsflüssigkeit Menstruationsblut
In einer weiteren Version der mesopotamischen Mythologie heißt es, dass in jenen Tagen vor unser Zeit Tiamat als Göttin des Salzwassers und Apsu als Gott des Süßwassers existiert haben sollen.
Tiamat war ein riesiger Salzwassersee, der bereits vor der Entstehung des Kosmos existierte. Apsu, der Süßwassergott war ihr aber nicht übergeordnet, nicht einmal gleichgestellt. Der wahre Quell, aus dem alles Leben hervorgegangen ist, ist Tiamat, das Salzwasser, die Ozeane. Tiamat soll ganz allein (ohne Zutun von Apsu) die Schöpfungsflüssigkeit erzeugt haben, die nicht aus Samenflüssigkeit sondern aus Menstruationsblut besteht.
Dieses soll drei Jahre, drei Monate und drei Wochen lang aus der Göttin geflossen sein und das Rote Meer gebildet haben. Noch heute wird die Ostküste des Roten Meeres „Tihamat“ genannt.
Der Tiamat-Mythos taucht auch immer wieder im Alten Testament auf. Etwa auch an jener Stelle, an dem der jüdische Gott das Rote Meer teilte, das als Synonym für Tiamat steht. Ihr Blut, so sagt man, sei die Grundlage aller Gewässer, es verleihe Unsterblichkeit und erhebe Sterbliche zu Königen.
Im hebräischen ist Tiamat als Tehom im Schöpfungslied bekannt.
Ungeheuer, Monster, Sphinxen, Dämonen aus dem Schoß der Tiamat
Schließlich nahm sie die Form eines Drachen an und schwamm als dieser in den urzeitlichen Wassern. In einem wahren Schöpfungsrausch soll sie in ihrer Drachengestalt viele Wesen geschaffen haben – Ungeheuer, Monster, Sphinxen, Skorpione und anderen Dämonen wie auch Stürme, schließlich kamen alle Gottheiten aus dem Schoß der Tiamat hervor. Diese haben sich in einem anderen Teil des Universums angesiedelt, aber einen solchen Radau gemacht, dass sich Apsu gestört gefühlt hat.
Er wollte, dass Tiamat ihre Geschöpfe wieder tötet, was diese in ihrer Mütterlichkeit aber entschieden zurückwies. Nun aber töteten die Gottheiten Apsu, weil sie davon erfuhren, dass er ihnen ans Leben wollte. Dass erzürnte Tiamat allerdings so, dass sie gegen diese Gottheiten einen Krieg begann.
Verschlingt Geschöpfe, um sich erneut aus sich hervorzubringen
Wie dieser Krieg ausging, davon gibt es unterschiedliche Versionen: Die eine besagt, dass ihr Sohn Marduk seine Mutter Tiamat tötete und zweiteilte, was der eigentliche Schöpfungsprozess gewesen wäre.
In einer anderen Version soll Tiamat als Drache Marduk verschlungen haben. Sie nimmt in tief in die Nacht ihres Universums hinein, um ihn immer wieder von Neuem auszuspucken.
Und schließlich heißt es auch, dass dieser Kampf noch lange nicht beendet ist und immer noch ausgetragen wird. Im ewigen Zyklus des Werdens und Vergehens verschlingt Tiamat immer wieder ihre Geschöpfe, um sich erneut aus sich hervorzubringen.
auch: Dia Mater, Tamtu