Nicht biblisch erwähnt ist die Existenz von Anna, der Mutter von Maria. Dennoch gibt es zahlreiche Legenden um diese Urmutter. Anna entspringt der Sehnsucht nach einer Großmutterfigur, nach einer Urmutter, einer „Weisen Alten“, wie sie in vielen spirituellen Richtungen als Schöpfungsgöttin vorkommt.

Die „Ahnin“

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Nicht biblisch erwähnt ist die Existenz von Anna, der Mutter von Maria. Dennoch gibt es zahlreiche Legenden um diese Urmutter: Im Gegensatz zu den in das Neue Testament aufgenommenen Evangelien des Matthäus und Lukas, die bei der Geburt Jesu beginnen, bzw. dessen männliche Linie beleuchten, greift das sogenannte Protevangelium des Jakobus darüber hinaus und erzählt ausführlich von der Herkunft Marias, der Mutter Jesu.

Der Name Protevangelium leitet sich vom griechischen protos „das erste“ oder „Anfangs-“ her, es ist vermutlich Mitte des 2. Jahrhunderts entstanden. Und das ist eine der Quellen für die vielen Mythen und Legenden rund um Anna.

Andere Quellen entspringen einer Sehnsucht nach einer Großmutterfigur, nach einer Urmutter, einer „Weisen Alten“, wie sie in vielen spirituellen Richtungen als Schöpfungsgöttin vorkommt.

Wurzeln in den Urgöttinnen

Allein der Name Anna verweist auf viel ältere Wurzeln und Göttinnen: auf die persisch-semitische Anahita, die indische Ananta, die altägyptische und altsyrische Anath, die sumerische Inanna, die hethitische Hannahanna, die keltischen Göttinnen Anu und Dana – allesamt Urmütter, Großmütter der Menschheit, Schöpfungsgöttinnen.
Dazu kommt die römische Muttergöttin „Iana“ (Juno), die es den ChristInnen im Römischen Reich leicht machte, die christliche Urmutter Anna zu akzeptieren und zu verehren.
„An“ ist eine der sechs Ursilben der Menschheit und bezeichnet etwas verehrungswürdiges, uranfängliches Weibliches, deutsch: „Ahne“ = Altmutter, Vorfahrin.

Der Name der Großmutter Jesu wurde also nicht von ungefähr gewählt, war er doch den Menschen schon lange als göttliche Urahnin vertraut. In syrischen Versionen des Jakobus-Evangeliums wird Anna übrigens Dinah genannt, was eine interessante Ähnlichkeit zu Diana (=Di-Ana) aufweist — der Göttin Ana.

Parallelen gibt es auch zur römischen Anna Perenna, und zur afrikanischen Nana Buruku — beide „Großmütter der Zeit“. Wenn man von großen Zeiträumen bzw. der Ewigkeit spricht, so nennt man das Aeonen — der Zeitraum der Urgöttin Anna.

Die fruchtbare Umarmung an der „Goldenen Pforte“

Doch zurück zur Legende rund um die christliche (eigentlich jüdischen) Anna: Sie war mit Joachim verheiratet, das Paar war nach 20 Jahren Ehe kinderlos geblieben. Joachim — ein reicher und frommer Mann — spendete regelmäßig den Armen und dem Tempel.
Doch dann wies ein Hohepriester seine Opfer mit der Begründung der Kinderlosigkeit zurück, was als Zeichen göttlicher Missgunst gewertet wurde.

Joachim zieht sich daraufhin in die Wüste zurück, wo er 40 Tage lang fastet und betet. Es erschien ihm (und auch zeitgleich der in Jerusalem verweilenden Anna) ein Engel. Erwähnenswert erscheint, dass dem jüdischen Paar natürlich auch ein jüdischer Engel erscheint, denn das Christentum gab es noch einige Zeit nicht.
Dieser Engel kündigte beiden die Geburt eines Kind an.

Freudig kehrt Joachim nach Jerusalem zurück und umarmt Anna an der „Goldenen Pforte“, dem Eingang zum Tempel Jerusalems. Genau in dieser Umarmung soll Maria entstanden sein. Gemeinhin spricht von einer „unbefleckten Empfängnis“. Was nicht mit der „Jungferngeburt“ zu verwechseln ist, mit der sie später ihrem Sohn Jesus das Leben schenkte.

Ein großes Fest der katholischen Kirche, das mit dem „Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria“ am 8. Dezember gefeiert wird.

Diese Feier lässt sich seit dem 9. Jahrhundert nachweisen. (Exakt 9 Monate später hat Anna dann ihre Tochter geboren, was mit „Mariä Geburt“ am 8. September gefeiert wird.)
Nun scheiden sich die Geister: Gab es bei dieser Umarmung Annas und Joachims einen Austausch von Körperflüssigkeiten oder nicht?
Ist mit der „Goldenen Pforte“ tatsächlich der Eingang zum Tempel Jerusalems gemeint oder jener zum „Tempel“ des göttlichen Körpers der Anna.

Erbsünde durch Sexualakt

In der offiziellen Auffassung der katholischen Kirche wird die Erbsünde durch den Sexualakt übertragen. Wenn also Maria frei von jeglicher Erbsünde ist, dann kann auch sie nicht durch sexuelle Interaktion gezeugt worden sein.

So ging man lange davon aus, dass Anna „ohne die Tat eines Mannes“ empfing und daher so „rein wie ihre Tochter“ sei. Was wiederum auf den Status einer großen Göttin hinweist, die aus sich selbst heraus schöpfen und gebären kann.
Im Fall von Anna und Maria ist das noch eindeutiger als bei Maria und Jesus, weil rein biologisch bei einer parthenogenetischen Zeugung immer eine Tochter entsteht.

Die Auseinandersetzung rund um die „unbefleckte Empfängnis“ 

Diese „jungfräuliche“ Geburt der Maria wurde zuerst von der Kirche akzeptiert, weil damit die „Sündenlosigkeit“ Mariens gut erklärbar war. Doch später befanden die Kirchenväter, dass zwei jungfräuliche Geburten eine zuviel sei.

Da könnten ja vielleicht einige auf den Gedanken kommen, dass schon Maria (eine Frau!!!) die Erlösungs-Funktion innehaben könne (und nicht erst ihr „eingeborener Sohn“):
Also wurde diese Version verworfen zugunsten der Auffassung, dass Anna ihre Tochter Maria auf ganz normalem Wege empfangen und geboren habe.

Allerdings sei Maria schon im allerersten Augenblick ihres Lebens bei ihrer Zeugung durch göttliche Gnade von der Erbsünde befreit worden. Deswegen spricht man auch weiterhin von der „unbefleckten Empfängnis“ (lateinisch: immaculata conceptio).
Dies alles stellte Papst Pius IX. am 8. Dezember 1854 nach Jahrhunderte langer Diskussion rund um die „unbefleckte Empfängnis Mariens“ als unumstößlichen Glaubenssatz, als Dogma fest.

Einer von zahlreichen Fällen, in der die Amtskirche lange diskutiert und schließlich eine ursprüngliche Meinung umgestoßen und ihr Weltbild angepasst hat.
Was ja richtig Hoffnung gibt, dass dies auch mit so manchen anderen Lehrmeinungen geschehen könnte – im Zuge der Tatsache, dass wir uns bereits im 3. Jahrtausend (nach Christus) befinden. Doch dies ist eine andere Geschichte …

Maria sei also dem Dogma von Papst Pius gemäß der einzige Mensch, der frei von jeglichem Makel der Erbsünde ist.
Damit bewahrte Gott seine „treue Magd Maria“ vor der Macht der Sünde. Von da an durfte sie also ungetrübt (unbefleckt) in der Freundschaft mit Gott leben.

Anna selbdritt als Hinweis auf eine dreifache Göttin

Doch zurück zu Anna: Die christliche Verehrung der Anna ist sehr alt, bereits im Jahre 550 wurde in Konstantinopel ihr zu Ehren eine Kirche erbaut. In Europa erreichte im späten Mittelalter der Anna‐Kult  seinen Höhepunkt, als 1481 Papst Sixtus IV. den Gedenktag der Anna in den römischen Kalender aufnahm; 1584 bestimmte Papst Gregor XIII. ihren Festtag.

Seit 1500 liegen angeblich Reliquien von Anna in Düren, weitere liegen in Wien und anderen Städten. Vor allem in Deutschland breitete sich Mitte des 15. Jahrhunderts ein regelrechter Annenkult aus. Nach den ersten Pest-Epidemien war das Bürgertum wieder erstarkt und der Zusammenhalt einer Familie wurde hochgeschätzt.
Daher passte es sehr gut in das Weltbild dieser Zeit, Anna, die Mutter Marias und Großmutter Jesu als heilig zu verehren und als die Matriarchin der Familie und als Ahnin der gesamten Sippe besonders zu würdigen.
Zahlreiche Annenbruderschaften und Annenaltäre wurden gegründet.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Darstellung der „Anna selbdritt“ – ein Begriff der vor allem aus der sakralen Kunst bekannt ist. Meist wird damit die Darstellungen der Anna mit ihrer Tochter Maria und dem Jesusknaben bezeichnet. Ein besonders berühmtes Gemälde ist eine „Anna selbdritt“-Darstellung von Leonardo da Vinci (siehe: Anna Selbdritt)

Allerdings soll Anna nach dem Tod Joachims noch zwei weitere Ehemänner gehabt haben: Kleophas und Salomas. Aus diesen Verbindungen ging ebenfalls jeweils eine Tochter namens Maria hervor. Das kann ja als weiteres Wunder angesehen werden, da sie ja eigentlich bei der Geburt der ersten Maria bereits 20 Jahre auf eine Schwangerschaft hoffte und schon allein wegen ihres hohen Alters als unfruchtbar galt.
Daher auch der fromme Spruch des „einfaches Volkes“: „Anna war ein selig Weib: Drei Marien gebar ihr Leib!“

Diese dreifache Maria kann als dreifaltige Muttergöttin als „Anna selbdritt“ angesehen werden, als Anna, die aus sich selbst heraus eine Göttinnen-Trilogie erschuf. In der keltischen Mythologie, die an vielen Orten die Dreifaltigkeit der Bethen verehrte, kannte man die Erdmutter Ambeth als eine dieser drei Göttinnen. Sie wurde im Zuge der Christianisierung in Anna umgewandelt, wobei die Art ihrer Huldigung und der Rituale ihr zu Ehren wie auch die Kultplätze gleich blieben.

So hat der Annenkirtag im Juli, der vielerorts gefeiert wird, in seiner ursprünglichen Form ganz viele Elemente zur Ehrung alter Flur- und Erntegöttinnen, die es in dieser Jahreszeit zu beschwören gilt.
Und auch die vielen Plätze und Ortschaften, die den Namen Anna in ihrem Namen tragen (Annaberg, Annenthal, Annabründl, … ) lassen auf Kultstätten alter regionaler Göttinnen schließen, die unter dem Schutz- und Deckmantel der Anna weiter existieren und gewürdigt werden.

Die beschützende Ahnin und Großmutter

Ob und wie Anna tatsächlich als Großmutter ihres Enkelsohns Jesus war, das ist nicht überliefert — eine gütige, eine strenge, eine fröhliche, eine Spielkameradin, eine, bei der er sich ausweinen konnte, die ihm Leckereien zusteckte, die daheim vielleicht verboten waren, die ihm Geschichten beim Einschlafen erzählte. Wir wissen es nicht und das ist wahrscheinlich auch der Zauber von Anna und mit ihr aller Urgöttinnnen.

Einiges ist aber von Anna als Mutter von Maria überliefert. Und das zeigt sehr deutlich das Bild einer Weisheitsgöttin, einer Mutter, der die Bildung ihrer Tochter wichtig ist. So gibt es in der christlichen Kunst zahlreiche Darstellung, wo die Heilige Anna ihrer Tochter Maria das Lesen lehrt. Diese zeigen Anna und Maria, wobei eine der beiden ein Buch hält, in das beide konzentriert und in das Lesen versunken hineinschauen. Seltene Darstellungen zeigen die erwachsene Maria mit dem Jesuskind, daneben Anna mit dem Buch auf den Knien.
Hier zwei dieser interessanten Darstellungen:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gege_(workshop)_Heilige_Anna_lehrt_Maria.jpg 
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hinterglasbild_Hl_Anna_lehrt_Maria_Italien_18Jh.jpg
Viele weitere finden sich, wenn man in der Google-Bildersuche „Anna lehrt Maria lesen“ eingibt.
Das ist gerade im christlichem Kontext bemerkenswert — die Stellung der Frauen als Schriftgelehrte wird hier sehr deutlich dokumentiert.

Ansonsten können viel unserer Wünsche, Hoffnungen, Bitten in die alte Muttergöttin Anna hineininterpretieren. Wir können nur „ahnen“ , wofür diese „Ahnin“ steht (etymologisch ist Ahne auch mit Anna verwandt!) Damit steht Anna auch für alle „Ahnungen“, die wir haben — Botschaften, die wir von unseren Ahninnen und Ahnen bekommen. In der Zeit zurück und auch in der Zeit nach vor, denn auch unsere Nachfahren sind „Ahnen! Die Wörter Ahne und Enkel sind sprachverwandt. Im Mittelhochdeutschen ist „aninkila“ oder „enikel“ eine Verkleinerungsform von „Ahne“, bedeutet also „der kleine Ahn“. Daher gibt es also Ahninnen und Ahnen in beide Richtungen.

Anna wird auf jeden Fall als die Schutzheilige von Patronin von Florenz, Innsbruck, Neapel, sowie der Bretagne verehrt.

Und sie wird von den unterschiedlichsten Menschen und Menschengruppen als persönliche Schutzheilige oder -göttin angerufen: Von den Müttern, den Hausfrauen, von Hausangestellten, Witwen, von Armen, Arbeiterinnen, Bergleuten, WeberInnen, SchneiderInnen, StrumpfwirkerInnen, Spitzenklöpplerinnen, von Knechten, MüllerInnen, KrämerInnen, Seeleuten, SeilerInnen, TischlerInnen und GoldschmiedInnen.

Nicht zuletzt ist sie die Matrone der Hebammen und Ammen — „Amma“ ist in einigen Sprachen das Kosewort für Großmutter bzw. für Kinderfrauen, für beschützende und weise Frauen also.
Darüber hinaus ist Anna zuständig für die Eheanbahnung (Gebet von jungen Frauen: „Heilige Mutter Ann, schenk uns ein Mann“), infolge dann für eine glückliche Heirat, für Kindersegen und glückliche Geburt, für Wiederauffinden verlorener Sachen, sie beschützt bei Regen und Gewitter und vor Fieber, Kopf-, Brust- und Bauchschmerzen.

Sie ist damit eine dieser wunderbaren allumfassenden Göttinnen, die schnell und unkompliziert in fast jeder Lebenslage helfen, Geduld haben, zuhören können, einen heilenden Segen über Notleidende werfen — ganz so wie wir uns eine durch und durch liebevolle Großmutter vorstellen und wünschen.

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