Ayisyt sitzt beim Baum des Lebens am Gipfel der Welt. In sibirischen Traditionen wird von ihr gesagt, dass sie allwissend sei und das Schicksal aller Menschen auf die Blätter des Lebensbaums schreibt.
Mutter alles Lebens
Ayisyt sitzt beim Baum des Lebens am Gipfel der Welt.
In sibirischen Traditionen wird von ihr gesagt, dass sie allwissend sei und das Schicksal aller Menschen auf die Blätter des Lebensbaums schreibt .
Als Tochter der Erdmutter Toprak Ana und des Himmelsvaters Gok-Tengri ist sie die Mutter alles Lebens. Ihr Name bedeutet „die Geburtsgeberin“ oder auch „Mutter der Wiegen“. Ihr vollständiger Name ist Ajysyt-ijaksit-khotan, das bedeutet „gebende und nährende Mutter“.
Ein endloser Strom nährenden Lebenssaftes fließt — ihrer langen weißen Haare gleich — vom Lebensbaum hinab zur heiligen Erde und bildet dort einen See reinster Milch, daher wird sie auch die Mutter des Milchsees genannt. Mit ihrer nährenden Kraft gibt sie den Schwachen Kraft und heilt die Kranken. Sie soll die Muttermilch jeder Frau aus diesem See entstehen lassen, sodass die Neugeborenen eigentlich die Milch der Göttin trinken
Auch die Neugeborenen holt sie über den Lebensbaum vom Himmel herunter. Für jeden Menschen schreibt sie das Schicksal auf. In einer Version des Mythos: In ihr großes goldenes Schicksalsbuch. In einer anderen: Auf die Blätter des Lebensbaums, der damit immer größer und größer wird.
Die „Seelen-Lieferantin“
Bei den JakutInnen Russlands hat Ayisyt als Geburts- und Fruchtbarkeitsgöttin mehrere Funktionen:
- Sie veranlasst und verhilft Ayisyt Frauen mit Kinderwunsch schwanger zu werden.
- Sie beschützt sie Frauen bei der Geburt und hilft ihnen bei den Wehen, ihre Kinder gesund zur Welt zu bringen
- Vor allem aber haucht sie den Neugeborenen eine Seele ein und verleiht ihnen Lebenskraft und endlosen Atem
In Erzählungen wird immer wieder ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie sowohl für die weiblichen, wie für die männlichen Seelen zuständig ist. Sie liefert die Seelen sozusagen aus und zwar jene der neugeborenen Mädchen in Form einer Schere und jene der Buben in Form eines Messers.
Des weiteren hilft sie beim kalben und ist die Göttin der Haustiere, besonders der Rinder.
Rituale sorgen für friedliche Stimmung
Es gibt eine Reihe an Geburtsritualen rund um diese Göttin:
Ayisyt soll bereits sieben Tage vor einer zu erwartenden Geburt ins Haus kommen. Die Menschen dieses Hauses sind angewiesen, während der Zeit in der sich die Göttin im Haus befindet, keinesfalls zu streiten oder zu fluchen. Sowohl lautes Sprechen wie auch Klopfen ist verboten. Teller dürfen nicht verkehrt oder gekippt liegen.
Überhaupt sollen die Menschen auf Zehenspitzen gehen und nur flüstern, sonst fühlt sich Ayisyt gestört und verlässt das Haus, bevor sie der Mutter geholfen und das Kind gesegnet hat.
Da der genaue Zeitpunkt der Geburt ja nicht bekannt ist und die Menschen daher auch nicht wissen, ob Ayisyt schon im Haus weilt, ist diese friedliche, ruhige Atmosphäre schon einige Zeit vor der Geburt eines Kindes üblich. Ein sehr sinnvoller Brauch — sowohl für die Mutter wie auch für alle MitbewohnerInnen.
Es gibt auch Zeremonien, bei denen diese Göttin nach einer Geburt bedankt und gepriesen wird. Diese werden aber von den jakutischen Frauen großteils geheim gehalten. Männer dürfen daran nicht teilnehmen, dies würde eine Entweihung bedeuten.
Butter für das Baby
Unmittelbar nach der Geburt bietet die Hebamme der Göttin Butter an, indem sie diese auf die Herzregion des Neugeborenen streicht und dabei betet: „Wir danken dir, Ayisyt für das, was du uns gegeben hast und bitten dich, es uns auch in Zukunft zu gewähren.“
Damit wird die Göttin vor allem gebeten, zur selben Frau wieder zurückzukehren, nachdem sie ihr ein weiteres Kind ermöglicht hat.
Die Gebärende wird drei Tage abgesondert, nur ihre Freundinnen dürfen sie besuchen und essen „Butter für Ayisyt“ mit ihr.
Beobachtungen zufolge werden am dritten Tag nach der Geburt in einem eigenen für die Göttin errichteten Zelt Teile eines geopferten Tieren (meist die Eingeweide) auf einem besonderen Speisetisch für die Göttin dargebracht.
Von den Teilnehmerinnen an dieser Zeremonie wird erwartet, dass diese laut, wild und lange lachen.
Diejenige, die mit ihrem Lachen alle anderen übertönt soll die meiste Aufmerksamkeit der Göttin erlangen und damit als nächste schwanger werden.
Nach diesen drei Tagen nimmt die Hebamme das Stroh, auf dem die junge Mutter gelegen hatte und bindet es in die Krone eines hohen Baumes.
Das ist das Zeichen für Ayisyt, dass sie nun das Haus verlassen kann — bis zur nächsten Geburt.
Schamanische Fruchtbarkeits-Zeremonien
Frauen bzw. Paare, die keine Kinder bekommen können, wenden sich an Schamaninnen oder Schamanen, damit diese mit Ayisyt auf einer Trancereise in Verbindung treten.
Man geht davon aus, dass kinderlose Paare offenbar in Ungnade der Ayisyt gefallen sind. Es ist nur „weißen SchamanInnen“, die mit freundlichen Seelen arbeiten, erlaubt, mit Ayisyt Verbindung aufzunehmen.
Auch bei diesen Fruchtbarkeits-Zeremonien sind Teller wichtig: Bevor die Schamanin das Haus bzw. Zelt betritt (das vorher gut gesäubert werden muss), sollen vor allem alle Teller gut gewaschen und eingeölt werden. Diese müssen dann in ordentlichen geraden Reihen in den Regalen bzw. am Tisch stehen.
Die Erde der Jurte muss mit frischen Gras ausgelegt werden. Am Weg zum Haus- bzw. Jurteneingang soll eine Allee mit kleinen Birkenbäumchen errichtet werden. Das ist der Pfad, den Ayisyt erkennt und gerne beschreitet.
Die Schamanin wählt dann 7 Mädchen aus, die sie bei ihrer Arbeit unterstützen. Das ist vor allem wichtig, wenn sich im Zuge der Zeremonie herausstellt, dass die Göttin eine Frau bzw. ein Paar als „unwürdig“ empfindet, Nachkommen zu bekommen.
Dann spricht die Schamanin über die reinen, klaren jungen Menschen mit der Göttin. Diese bitten Ayisyt um Entschuldigung für alles, was sie dazu veranlasst, keinen Kindersegen zu gewähren.
Während der ganzen Zeremonie sollen alle Beteiligten sanfte und glückliche Gesichter haben und lächeln.
Die Schamanin (oder der Schamane) legt sich ein weißes Pferdefell um und arbeitet dann mit Trommeln. Es werden verschiedene Tricks angewandt, um missgünstige bzw. feindliche „Geister“ abzuwehren, denn es soll nicht Zweck dieser Zeremonie sein, eine „beschädigte Seele“ zu rufen. Damit kommt möglicherweise die ein Kind, das krank oder schwach ist und vielleicht gleich nach der Geburt stirbt.
Es wird berichtet, dass es der schamanische Weg zu Ayisyt sehr lang ist. Endlich bei ihr angekommen, legt die Schamanin ihre Trommel vor ihr nieder, bittet um einen Lebensplatz für ein Kind auf der Erde, verhandelt mit ihr und nimmt auch Anweisungen mit, wie sich die (zukünftigen) Eltern den Kindern gegenüber verhalten sollen.
Seele im Ohr
Gibt Ayisyt eine Seele frei, dann nimmt sie die Schamanin an und versteckt sie für die Rückreise in ihrem linken Ohr. Ayisyt warnt nochmals, dass das von ihr gewährte Kind nicht geschlagen werden darf und dass man vor ihm auch nicht fluchen sollen. Sie gibt Anweisungen, das Kind zu lieben, zu beschützen und es richtig zu erziehen.
Vor der Fruchtbarkeits-Zeremonie formt das Paar mit Kinderwunsch eine kleine Box aus Birkenholz in Form eines Nestes. In diese geben sie zwei kleine Holzvögel. Nach der Rückkehr von der Reise zu Ayisyt nimmt die Schamanin die Seele aus ihrem Ohr und „implantiert“ sie in die Holzvögel. Dann legen die zukünftigen Eltern die Holzvögel wieder zurück in ihr Nest. Anschließend wird diese Box an einem guten Platz in einer Scheune verwahrt.
Ayisyt kann dann aber immer noch entscheiden, diese Seele aus dem Nest zu stehlen und sie einer anderen Frau zu geben, der von der Göttin eine bessere Mutterschaft zugetraut wird.
Haus mit sieben Geschichten
Wenn sie gerade bei keiner Geburt anwesend ist, dann lebt Ayisyt auf einem Berggipfel in einem „Haus mit sieben Geschichten“, damit sind vermutlich sieben Geschoße gemeint. Von dort kontrolliert sie das Schicksal der Erde. Dort schlägt sie auch die Trommel, die den Rhythmus allen Lebens angibt.
Ayisyt ist auch die Göttin der Haustiere, besonders der Pferde und Rinder. Auch bei ihnen fungiert sie als Geburtsgöttin, denn das erfolgreiche Kalben war in der jakutischen Gesellschaft von großer — auch wirtschaftlichen — Bedeutung.
auch: Aisyt, Ajyisyt, Ayyyhit
vollständiger Namen: Ajysyt-ijaksit-khotan
Anmerkung: Der Ablauf der Fruchtbarkeitszeremonie ist im Buch: „Shamanism in Siberia: Russian Records of Indigenous Spirituality“ von Andrei Znamenski genau beschrieben und von diesem in Auszügen übersetzt und übernommen.