In den Dolomiten gibt es die Sage der Steinkönigin Tanna. Sie ist die Hüterin aller Felsen, Steine und Edelsteine. Es heißt, sie hätte keine Gefühle, kein Bedauern, keine überschwängliche Freude. Sie kann Bergstürze herbeiführen oder aufhalten, genauso wie Lawinen und Sturzfluten.
Die Steinkönigin
In den Dolomiten gibt es die Sage der Steinkönigin Tanna. Sie ist die Hüterin aller Felsen, Steine und Edelsteine. Es heißt, sie hätte keine Gefühle, kein Bedauern, keine überschwängliche Freude. Sie kann Bergstürze herbeiführen oder aufhalten, genauso wie Lawinen und Sturzfluten.
In den Mythen der Dolomiten nimmt Tanna die Gestalt einer Berggöttin an, denn das ist hier das Erscheinungsbild der Erde. Als solche hatte sie jedoch nicht nur einen gütigen, sondern auch einen wilden Charakter, der die Gefahren spiegelt, denen die Menschen in dieser Alpenregion schon immer ausgesetzt waren: Steinschlag, Lawinen, Hochwasser und Muren haben in diesem Land der steilen Felsen eine besonders gefährliche Vehemenz.
Tanna wird auch als Gletschergöttin mit einem Herz aus Eis beschrieben, deren Thron auf den höchsten Gipfeln zu finden ist. Sie trägt einen Mantel aus Schnee und eine Krone aus blauem Eis.
Sie gebietet über die furchterregenden Crodères, mit denen die Berggruppe der Marmaròles gemeint ist. Es heißt, dass diese Crodères nicht nur unbelebte Felsen, sondern auch Naturgeister sind, allerdings ohne menschliches Herz, die die Befehle der Tanna ausführen. Sie haben die Macht, die Talböden mit Lawinen, Schlammlawinen, Steinschlag und reißenden Strömen zu zerstören oder aber auch diese Naturgewalten aufzuhalten und so die Menschen davor zu retten.
Mit uralten Göttinnen verbunden
Tanna hat ihre mythologischen Wurzeln in der uralten, allgemeinen europäischen Göttin Dana. Sie ist als „Ana“ oder „Anna“ weit über Europa hinaus auch im Vorderen Orient als Urgöttin und Große Mutter bekannt. Im Kreta der Jungsteinzeit wurde sie als Danae verehrt und war die Verkörperung des Landes selbst. Auch Diana als römische Göttin der freien und wilden Natur ist mit Tanna verbunden.
Auch in Irland war Dana die Göttin des Landes, und ihr Volk nannte sich „Tuatha Dé Danann“. Zwei heilige Hügel in Irland weisen noch auf sie hin, welche die „Brüste der Danu“ genannt wurden. Und auch „Däne-mark“ ist das „Land der Dana“. Auch der Name der Flüsse Donau und Don sind mit dieser alten Göttin verbunden.
Offenbar gab es eine von Süden kommende, altmittelmeerische Kultur mit einer Göttin Dana, die sich ausbreitete bis über den Alpenhauptkamm hinweg und auf seine nördliche Seite. In den Dolomiten angekommen, wurde der Name der Dana dann im örtlichen Dialekt als Tanna ausgesprochen und ihr Name taucht in Landschafts- und Sippennamen in ganz Südtirol einschließlich der Ötztaler Alpen und sogar noch bei Innsbruck auf.
Die versunkene Stadt
Es gibt die Sage von einer mythischen Stadt Tanneneh, die beim Alpenhauptkamm der Ötztaler Alpen lokalisiert wird. Diese soll unter einem Gletscher begraben sein. Vergleichbare Sagen von einer im Schnee und Eis versunkenen Stadt oder Almlandschaft gibt es übrigens im gesamten Alpenraum.
Dies könnte auf einen plötzlichen Kälteeinbruch in Europa um 4.000 – 3.000 v.u.Z. zurückzuführen sein.
Verschiedene Geschichten der Tanna-Mythen weisen darauf hin, dass es eine Naturkatastrophe großen Ausmaßes gab. Die Menschen müssen diesen Klimasturz als Strafe der Landesgöttin empfunden haben.
Es heißt, dass Tanna einen magischen Spiegel aus glitzerndem Eis besitzt, der es ihr ermöglicht, die Werke der Menschen zu beobachten. Den Menschen war es eingefallen, in wahnwitziger Art und Weise, die Natur zu überlisten. So bauten sie Häuser und Mauern bis in die höchsten Felsen. Das missfiel der Berggöttin. Lange Zeit ließ sie die Menschen mit versteinertem Blick gewähren, doch eines Tages schlug sie zurück. Tausende Felsblöcke rasten zu Tal und gewaltige Lawinen fuhren mit Urgewalt dazwischen und brachten Tod und Verderben. Dörfer versanken unter Gletschern und wo einst Wiesen und Almen waren, gab es nur mehr Stein, Felsen und eisiges Geröll.
Hinter diesen Sagen stehen vermutlich geo-historische Ereignisse: Einer Warmzeit mit mildem Klima, die den Menschen der Jungsteinzeit die Ansiedlung in höheren Gebieten der Berge, ein bequemes Überschreiten höchster Pässe und das Anlegen eines Wegenetzes für den Handel ermöglichte, folgte ein verheerender Einbruch einer Zwischeneiszeit, welche die blühende Höhenkultur in den Alpen vernichtete.
Die enttäuschte Liebe
Es gibt zahlreiche Geschichten rund um Tanna. So soll sie sich einst in einen Prinzen aus Aquileja verliebt haben, von dem sie auch einen Sohn hatte.
Aufgrund dieser Liebe verzichtete sie auf ihre Krone aus Eis und aus Mitleid mit den Menschen verbot sie die zerstörerische Arbeit der Crodères.
Als sie aber entdeckte, dass der Prinz sie verraten hatte, kehrte sie zu den Berggipfeln zurück und befahl den Crodères, ihre Arbeit wieder aufzunehmen, was in den Tälern der Menschen schlimmeres Chaos anrichtete als je zuvor. Ein möglicher Hinweis auf Naturereignisse wie die eben geschilderte Klimaveränderung.
Eine andere Geschichte erzählt davon, dass sich ein Hirte verirrte und abzustürzen drohte. Da geschah etwas Seltsames: Die sonst gefühllose Tanna zeigte Mitleid und half dem Hirten. Mehr noch: Sie verliebte sich in ihn und er versprach, sich niemals von ihr zu trennen. Sie beschloss, das Reich der Steine zu verlassen, menschlich zu werden und zu ihm ins Tal zu ziehen.
Doch als sie ins Dorf kam, hatte der Hirte längst eine andere Frau und erinnerte sich nicht mehr an sie. Es dauerte lange, der Hirte war längst tot und vergessen, bis Tanna ins Reich der Steine zurückfand und von den Crodères wieder als Steinkönigin angenommen wurde. Sie nimmt wieder ihre Krone mit dem blauen Kristall Rayeta in Besitz und wurde wieder zum Gebirge, zur unnahbaren Berggöttin, die sich nicht mehr um die Belange der Menschen kümmert. Es heißt, dass sie nur noch Frauen erhört, die von einem Mann betrogen werden.
In ihrem Winteraspekt wird Tanna auch Samblana genannt. Als diese lebt sie in den „Gläsernen Bergen“, wo das ganze Jahr über nur Eis und Schnee herrschen.
Ihr Schleier wuchs in das Eis des Berges hinein, so dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Aus dieser Lage wurde sie von zwei kleinen Mädchen befreit, die in der ladinischen Sprache der Dolomiten „les Yemeles“ („die Zwillingsmädchen“) genannt werden. Diese brachten ihr einen wunderschönen blauen Stein, die Rayeta. Ihre Bedingung, damit Samblana aus ihrer festgefrorenen, erstarrten Haltung befreit wird: Sie muss aus der Rayeta einen Spiegel machen, mit dem sie das letzte Licht der Wintersonne in die äußersten Winkel der Täler lenken kann.
Die Berggöttin erkor die Zwillingsschwestern dazu aus, jenen Menschen zu helfen, die in den Bergen in Gefahr gerieten. Einsame WanderInnen können ihnen auf gefährlichen Bergpfaden begegnen. Die beiden Mädchen warnen die Menschen vor drohenden Schneestürmen, Lawinen, Steinschlägen und anderen Berggefahren.
auch: Samblana