Nanshe ist ein babylonischer Titel der Großen Göttin – als Wassergöttin ist sie auch eine Göttin der Fruchtbarkeit. Darüber hinaus ist die Göttin des „Hellen Sehens“, des „Wahren Sagens“ sowie der Träume und des Traumdeutens.
Helles Sehen, Wahres Sagen
Nanshe ist ein babylonischer Titel der Großen Göttin – als Wassergöttin ist sie auch eine Göttin der Fruchtbarkeit. Sie war Gebieterin über den Persischen Golf und allen Tiere darin. Ihre Funktionen als Göttin sind vielfältig: Sie war eine Göttin der sozialen Gerechtigkeit, der Prophezeiung sowie der Fischerei.
Darüber hinaus ist die Göttin des „Hellen Sehens“, des „Wahren Sagens“ sowie der Träume und des Traumdeutens.
Als Göttin der Fruchtbarkeit hat Nanshe die Macht über alles, was wird und sich entwickelt. Denn ohne sie kann in dieser Welt nichts Neues und damit auch nichts Kraftvolles und Gutes entstehen.
In der sumerischen Mythologie war Nanshe die Tochter von Ninhursanga (Erd- und Muttergöttin) und Enki (Gott des süßen Wassers). Ihre Mutter schuf aus Lehm und ihrem „Blut des Lebens“ die ersten menschlichen Wesen, ihr Vater ließ, um die Gunst von Ninhursanga zu erreichen, aus einem bitteren Brunnen Süßwasser fließen und gilt damit als Süßwassergott.
Sie steht an der Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die wichtigste Zeit der Nanshe ist der Jahreswechsel, ihr großer Tag ist der 1. Januar. Da blickt sie zurück in die Vergangenheit und zieht daraus ihre Schlüsse für die Zukunft.
Ihren Priesterinnen verlieh sie die Gabe des „Hellen Sehens“. Mit Hilfe von Visionen, Anzeichen und Träumen zogen diese daher ganz allgemein Schlüsse für das gerade beginnende Jahr. Das ist eigentlich kein „Zauberkunststück“. Beim „Hellen Sehen“ (treffender ist vielleicht der französische Ausdruck dafür: clairvoyance – Klarsehen) geht es eigentlich darum, die richtigen Schlüsse aus dem zu ziehen, was meist ohnehin schon offensichtlich ist.
Die meisten verschließen aber gerade vor den Konsequenzen ihres eigenen Handelns (oder Nicht-Handelns) die Augen. Oder sie sind so auf sich konzentriert, dass sie die Zeichen der Zeit, die Bedingungen der sie umgebenden Umwelt bzw. die Handlungen anderer AkteurInnen nicht wahrnehmen bzw. keine klaren Schlüsse daraus ziehen können.
Oft braucht es daher eine Außensicht – und das wird oft die Kunst des „Hellsehens“ genannt, wenn diese Ergebnisse des „Hellen Sehens“ ausgesprochen werden, dann nennt man das „Wahrsagen“ oder einfach auch „wahres Sagen“.
Göttin der sozialen Gerechtigkeit
In der Nanshe-Hymne wird beschrieben, dass sie eine Rolle spielt, indem sie dafür sorgt, dass Gewichte und Maße korrekt sind. Es muss alles gerecht zugehen und entsprechend verteilt werden. Sie wird auch als die „Dame der Lagerräume“ bezeichnet.
Sie war aber nicht nur für materielle Güter zuständig, sondern auch die weithin verehrte Göttin der sozialen Gerechtigkeit. In den Mythen über sie wird erzählt, sie pflege Waisen, versorge Witwen, berät Schuldige und nahm Flüchtlinge aus kriegsgeschüttelten Gebieten auf. Sie wird in alten Texten als Mutter für die Waisen und Betreuerin der Witwen bezeichnet.
Die sumerische Hymne an Nanshe beschreibt sie als die Wohltäterin der Städte, die sie sponsert, und als die Beschützerin der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft.
Von Nanshe wird erzählt, dass sie zu Jahreswechsel die Taten der Menschen beurteilt und deren Schicksale daraus deutet. Auch hier wägt sie ab. Dabei zeigt sie immer Mitgefühl für die Schwachen und Armen. Im Namen der Nanshe wurden auch Träume gedeutet. Es wird auch gesagt, dass sie mit diesen Traumdeutungen den Willen der Gottheiten verkünden. Als Göttin der Träume und Prophezeiungen berät Nanshe sowohl Menschen als auch Gottheiten. Sie hilft beiden, weise Entscheidungen zu treffen. Bevor Menschen sie baten, ihnen einen Traum zu schicken, boten sie der Göttin rituelle Weihegaben in Form von Getränken and und reinigten sich rituell.
Da Nanshe eine Wassergöttin ist, spielt in ihren Ritualen auch Wasser eine große Rolle. So bei Übergängen wie jenen des Jahreswechsels – hier wurde das kostbare Nass für rituelle Reinigungen benutzt. Das Wasser der Nanshe wurde auch bei Schutz- und Segnungsritualen für Neugeborene verwendet – ein uralter Brauch, der sich bei Taufen im christlichen Sinn erhalten hat.
Dieser Brauch fand und findet immer noch in vielen Kulturen und Religionen seine Anwendung. Man verehrt sie, indem man die Lebensquelle des Wassers würdigt und ehrt.
Gänse, Pelikan und Fische – die heiligen Tiere der Göttin
Ihre heiligen Tiere sind Gänse und das hat mehrere Gründe: Das sind Tiere, die sich sowohl auf der Erde, wie im Wasser und auch in der Luft bewegen können. Sie sind sozusagen auf allen drei Seinsebenen daheim – im Wasser als dem Urgrund der Schöpfung und dem Symbol des tiefen Unterbewusstseins, auf dem Land, was ihnen die Erdung und Bodenständigkeit verleiht und hoch oben im Himmel, was für ihre geistige und spirituelle Kraft steht. Damit sind sie die geeignete Tiere für eine allumfassende Göttin. Nanshe ist zwar vor allem eine Wassergöttin, doch ihr Einfluss erstreckt sich auch auf das ganze Land bis hinein in die hohen Höhen des Himmels
Besonders für den Kulturkreis und das geographische Gebiet, in dem die Göttin Nanshe beheimatet ist, haben Gänse eine ganz besondere Bedeutung. Sie sind nämlich die Wintergäste in den mesopotamischen Sümpfen. Sie verbringen die Sommer in der Nähe des Polarkreises, wo sie brüten, und verbringen die Winter in Mesopotamien, wo sie im Oktober/November ankommen. Die Tatsache, dass die Gänse zu Beginn des Winters in Mesopotamien ankommen, ist sehr wichtig und erklärt, warum die Göttin Nanshe, die Göttin des Wassers und der Fruchtbarkeit, sehr oft mit Gänsen dargestellt wurde. Das Klimajahr in Mesopotamien teilt sich in eine heiße/trockene Hälfte (Apr/Mai-Okt/Nov) und eine kühle/feuchte Hälfte (Okt/Nov-Apr/Mai). Und all das süße Wasser, das Mesopotamien fruchtbar und bewohnbar macht, ist das Ergebnis von Regen und Schnee, der während der kühlen/nassen Hälfte des Jahres fällt.
Und die Gänse kommen, offenbar von der Göttin gerufen, aus dem Norden und bringen den ersehnten Regen mit sich, der Fruchtbarkeit bringt. Nanshe wird auch oft mit zwei Wasserströmen dargestellt, die die Flüsse Tigris und Euphrat symbolisieren sollen, deren Quellen in den nordöstlichen Bergen liegen, aus deren Richtung die die Gänse zu Beginn der Regenzeit kommen.
Ein weiteres heiliges Tier dieser Göttin ist der Pelikan, von dem gesagt wird, er solle seine eigene Brust aufreißen, um seine Jungen zu füttern. Das hebt nochmals ihre mütterliche Kraft und ihre Rolle als Beschützerin und Betreuerin der Schwachen und der Kinder hervor.
Ganz wichtig im Mythos der Nanshe ist auch der Fisch. Ihr wahrscheinlich wichtigstes Symbol ist eine mit Wasser gefüllte Schale in der ein Fisch schwimmt.
Das soll einen schwangeren Bauch symbolisieren – wobei wir wieder bei ihrem Fruchtbarkeitsaspekt sind. Tatsächlich schwimmt der Fötus wie ein Fisch im Fruchtwasser der Gebärmutter, behütet, beschützt und gut aufgehoben im Urelement Wasser.
Der Zusammenhang zwischen Fisch in der Schale und Fötus in der Gebärmutter verweist auch noch auf eine andere wichtige Bedeutung, die wiederum auf Nanshes Funktion als Göttin der weissagenden Träume hinweist: Wir können den schlafenden Körper eines träumenden Menschen mit einem Mutterleib vergleichen. Wie ein Fötus keimt der Traum in einer inneren Welt. In dieser „fötalen Traumwelt“ liegt das gesamte Potential, das sich ungehindert vom Tagesbewusstsein entfalten kann, ähnlich wie ein Mensch, der im Mutterleib heranreift. Das Erwachen aus unseren Träumen kann mit einem Geburtsprozess gleichgesetzt werden. Mit anderen Worten ist jedes Erwachen eine neue Geburt des „nächtlichen Fötus“. Wir können aus unserem Träumen heraus ein völlig neues Wesen erschaffen, das sein Potential nun im Wachzustand in die Wirklichkeit holen und in die Tag umsetzen kann.
Und Nanshe, die Wassergöttin, lehrt uns damit auch viel über Materie und die scheinbar konstanten Dinge unseres Lebens. Denn so sicher uns unsere Welt, so gleichmäßig uns unsere Lebensumstände und die materiellen Dinge unseres Daseins auch erscheinen mögen, sie befinden sich in ständigem Fluss.
Denn ähnlich dem Heraklit-Zitat, dass wie nie zweimal in denselben Fluss steigen können, können wir nach dem Aufwachen niemals zweimal in dieselbe Welt steigen. Alles ist in Bewegung und ständigem Wandel, das lehrt uns Nanshe und gleichzeitig vermittelt sie uns die Zuversicht, dass wir gut aufgehoben sind in ihrem Kessel, in dem wir behütet schwimmen und uns entfalten können.
auch: Nanše, Nanshebargunu