Am 13. Juli 1925 wurde in einer Aschenschicht eine kleine Frauenfigur aus Keramik gefunden. Sie war in zwei Teile zerbrochen, sonst sehr gut erhalten, 11,1 cm hoch und 4,3 cm breit.
Die kleine Ur-Alte
Am 13. Juli 1925 wurde in einer Aschenschicht eine kleine Frauenfigur aus Keramik gefunden. Sie war in zwei Teile zerbrochen, sonst sehr gut erhalten, 11,1 cm hoch und 4,3 cm breit.
Der Fundort ist in Mähren – in Dolní Véstonice, das heutige Okres Breclav.
Die kleine Frauenfigur wurde bei archäologischen Ausgrabung gefunden, die in den Jahren 1924 – 1938 durchgeführt wurden, bei dem auch ein Lager altsteinzeitlicher MammutjägerInnen entdeckt wurde.
Der Fund dieser Figur war eine Sensation. Ihr Alter wird auf 25.000 – 29.000 Jahre geschätzt. Sie zählt zu den ältesten keramischen Erzeugnissen und besteht aus einer Mischung aus Tierknochenmehl und Lehm. Zusammen mit ihr wurden zahlreiche Tierdarstellungen, wie Löwe, Mammut, Pferd und Nashorn und die Überreste von zwei Öfen gefunden.
Ihre Form ähnelt anderer aus dieser Periode stammenden Figuren, auffallend sind die großen, schweren Brüste und die verhältnismäßig kurzen zierlichen Beine. Die Arme sind nur angedeutet. Damit ist sie ihrer „älteren Schwester“, der Willendorferin sehr ähnlich. Wie alle Figuren aus dieser Epoche hat sie keine individuellen Gesichtszüge.
Das lässt verschiedene Deutungen zu: Entweder hat sich hier eine Frau selbst dargestellt, die ja lang vor der Erfindung des Spiegels nicht weiß, wie ihr Gesicht aussieht. Oder es wurde bewusst kein individuelles Menschengesicht geformt, weil mit dieser Figur kein Mensch dargestellt werden sollte, sondern eine Göttin.
Göttliche Quelle ergießt sich aus ihren Augen
Auffallend bei dieser Figur sind die Augen, die durch zwei schräge Schlitze angedeutet sind, von denen Linien hinabführen. Marija Gimbutas nennt diese Linien die „Wasser des Lebens“.
Es scheint, als würden sich Flüsse aus ihren Augen ergießen, die wie eine göttliche Quelle über ihren Körper fließt. Auch andere Funde zeigen, dass die Vorstellung der göttlichen Augenflüssigkeit bis ins Neolithikum ungebrochen fortbestand.
Die Augen der Göttin sind die Quelle des lebenserhaltenden Wassers, sie nährt damit den Boden, aus dem alles wachst.
Es gibt Vermutungen, dass die bekannte Statuette von Dolni Vestonice die alte Erdmutter-Göttin Mati darstellt. Sie ist im gesamten slawischen Raum bekannt und soll ihren Ursprung vor 30.000 Jahren haben. Ihr Name ist auch Mati Syra Zemla, das heißt „feuchte Mutter Erde“.
Die Augen der Figur sind Quelle des lebenserhaltenden Wassers, sie nährt damit den Boden, aus dem alles wachst, Dies könnte auf ihre Funktion als nährende Muttergöttin hinweisen.
Der Kopf der Figur wirkt fast so, als würde sie einen Helm oder eine Maske tragen. Ähnliche Kopfbedeckungen, die die äußere Welt fernhalten, tragen noch heute Schamaninnen bei ihren Reisen in die innere, geistige Welt.
Gut ausgearbeitet ist die Schulterpartie mit geraden Schultern und hervortretenden V-förmigen Schlüsselbeinen, die sozusagen das Gegengewicht zu den Augen darstellen.
Der Rücken ist vertikal durch eine Vertiefung betont und hat seitlich zwei Gewebefalten, die wahrscheinlich auf eine ältere Frau hinweisen.
Warum ist sie keine „Venus“
Es war üblich, solche Figuren nach dem Fundort zu benennen und ihnen den Beinamen „Venus“ zu geben. Die erste Figur, die diesen „Venus“-Titel bekam, war jene, die 1908 zufällig bei Gleisbauarbeiten in Willendorf gefunden wurde. Angeblich haben die Arbeiter der Figur, die schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts so gar nicht dem Schönheitsideal entsprach, scherzhaft den Namen „Venus“ gegeben.
„Venus“ als Fachbegriff taugt aber überhaupt nicht mehr. Denn es gibt außer den scherzhaften Bezeichnungen der Willendorfer Bauarbeiter eine weitere hässliche Vorgeschichte des Venusbegriffs in der Archäologie: Die 1815 verstorbene Afrikanerin Sara Baartman war aufgrund ihres ausladenden Gesäßes als „Vénus hottentote“ in Europa zur Schau gestellt und verhöhnt worden.
1894 stellte dann der Archäologe Édouard Piette einen Bezug zwischen dieser „Hottentotten-Venus“ und eiszeitlichen Frauenfiguren her. Bei beiden glaubte der Rassist Piette, einen typischen „abnormen“ Körperbau feststellen zu können – angeblicher Beleg für die geistige und sittliche Rückständigkeit der „Urmenschen“.
Diese Venus-Bezeichnung wird in feministischen Kreisen mittlerweile durch andere Bezeichnungen ersetzt. Die „Venus von Dolní Véstonice“ wird daher einfach nur als „Frau von Dolní Véstonice“ oder auch als „Urmutter von Dolní Véstonice“ bezeichnet.
In den Händen eines Kindes
Im Dunkeln bleibt, welchen Zweck diese kleinen Figurinen erfüllt haben bzw. ob sie überhaupt einen Zweck hatten sondern nur künstlerischer Ausdruck waren.
Die Phantasien gehen hier weit: Natürlich werden sie als Fruchtbarkeitssymbole gedeutet. Es gibt Interpretationen im erotischen Kontext: so etwas wie portable Schmeichelsteine oder Nippes zur Triebabfuhr für den paläolithischen Mann.
Vermutet werden auch magische Kraftgegenstände für Frauen, die sie – z.B. bei einer Geburt in der Hand hielten. Die spitz zulaufenden kurzen Beine könnten sie auch als Erd-, Flur- oder Erntegöttinnen ausweisen, denn diese Frauenfiguren eignen sich gut dazu, in lockere Erde gesteckt zu werden.
Vielleicht waren sie auch so etwas wie Spielzeug, Puppen für Kinder. Am Rücken der „Urmutter von Dolní Véstonice“ wurde ein Fingerabdruck gefunden. Durch eine Analyse wurde festgestellt, dass dieser von einem Kind im Alter zwischen sieben und fünfzehn Jahren stammen muss. Das Kind muss die Tonfigur in Händen gehalten haben, bevor sie zur Keramik gebrannt wurde.
Die Figur der Urmutter aus Dolní Véstonice ist seit ihrer Entdeckung in den Sammlungen des Mährischen Museums in Brünn/Brno deponiert.